Wahrnehmungsgrenzen im Strassenverkehr

Das haben Sie sicher auch schon erlebt. Im dichten Strassenverkehr, zwischen Bus oder Tram, Fussgängern und Fahrrädern, Lastwagen und anderen Autos, ist ein einzelnes Velo rasch mal übersehen. Meistens reicht es grad noch, um zu bremsen. Warum übersehen wir andere Verkehrsteilnehmer, obwohl wir konzentriert und aufmerksam fahren? Weil der Mensch begrenzte Fähigkeiten der Wahrnehmung hat.

Was bedeutet das eigentlich? Wahrnehmungsgrenzen beschreiben die begrenzte Fähigkeit des Menschen, Informationen aus der Umgebung gleichzeitig und vollständig zu erfassen, zu verarbeiten und richtig zu deuten. Insbesondere reden wir von der Aufmerksamkeit, dem Sichtfeld, der Reaktion sowie der Informationsüberflutung. Für eine sichere Teilnahme am Strassenverkehr sind gute Sicht sowie ein gutes Sehvermögen zentral. Denn über die Augen werden 90% der relevanten Informationen im Strassenverkehr aufgenommen. Nur 10% der Impulse werden über akustische oder andere Sinnessysteme erfasst. Und - die Fähigkeit, sich auf relevante Impulse zu konzentrieren und gleichzeitig die irrelevanten auszublenden, hat ihre Grenzen. Es braucht also höchste Aufmerksamkeit, um sicher am dichten Strassenverkehr teilzunehmen. Aufmerksamkeit lässt sich steuern. Sie lässt sich steigern und mindern. Sie ermüdet mit der Zeit (der Akku ist leer). Menschen sind unterschiedlich fähig, sich intensiv zu konzentrieren, das hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B. der Tageszeit, vom ausgeruht sein und der Gesundheit eines jeden einzelnen. Ein wichtiger Punkt ist die visuelle Ablenkung. Wenn Menschen während dem Fahren ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richtigen, wie z.B. das Bedienen des Smartphones, des Navigationssystems oder anderer digitaler Anzeigen, führt dies unweigerlich zu einer Ablenkung. Auch Gespräche und Musik oder Radio hören lenken kognitiv ab. Und bei hoher Geschwindigkeit oder Stress (Dichtestress) stellt sich automatisch ein Tunnelblick ein, der das Sichtfeld einschränkt, Bewegungen und Farben werden undeutlich und schlechter erkannt.

Die bekannten Bilderrätsel machen es uns vor – es ist nicht immer einfach, die Unterschiede zu finden. Erst auf den zweiten Blick lassen sich feine Ungleichheiten erkennen.
Die bekannten Bilderrätsel machen es uns vor – es ist nicht immer einfach, die Unterschiede zu finden. Erst auf den zweiten Blick lassen sich feine Ungleichheiten erkennen.

Physikalische Filter

Wahrnehmungsgrenzen gehen aber noch weiter. Dämmerung, Dunkelheit, Nebel, Regen und Schnee (physikalische Filter) führen zu geringeren Kontrasten und reduzieren die Schwelle der Wahrnehmung erheblich. Selbst ein gesundes Auge sieht unter diesen Bedingungen unscharf, der Abfall der Sehschärfe kann bis zu 90% betragen. Wenn die Scheibenwischer dann noch Schlieren ziehen oder man von entgegenkommenden Fahrzeugen geblendet wird, kann für einen kurzen Augenblick eine «Nachtblindheit» entstehen. Wenn die Lenkerin zudem müde ist, wird die Reaktionsfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Auch die Bewegungsempfindlichkeit sinkt, schnelle Objekte wie E-Bikes oder Motorräder können unterschätzt oder zu spät wahrgenommen werden.

Nur drei Objekte pro Sekunden

Der Mensch kann bei normaler Aufmerksamkeit und ohne physikalische Filter rund drei Objekte pro Sekunde bewusst wahrnehmen. Aus Studien mit Eye-Tracking-Analysen weiss man, dass schnelle Augenbewegungen die Art und Weise beeinflussen, wie der Mensch die Geschwindigkeit bewegter Objekte und seine Umwelt wahrnimmt. Man weiss auch, dass Wahrnehmung kein ununterbrochener Prozess ist. Man spricht von Sakkaden.

Sakkadische Wahrnehmung

Sakkaden sind schnelle, ruckartige Bewegungen der Augen, die nach der Fixierung eines Gegenstandes erfolgen. Diese Bewegungen werden auch als «Abtastsprünge im Blickverlauf» bezeichnet. Während einer Sakkade ist die visuelle Wahrnehmung erheblich eingeschränkt. Je schneller wir den Kopf bewegen, desto kürzer sind die Fixationen und umso länger die Sakkaden. Es gibt eine Strategie, um den Sakkaden entgegenzuwirken: Quiet Eye. Bewegen Sie den Kopf ruhig, das führt zu einer geringeren Anzahl Fixationen, die jedoch länger dauern. Schauen Sie doppelt hin (Kontrollblick). Auch im Spitzensport wird diese Strategie eingesetzt und trainiert. (Quelle: Dr. Stefan Michel, FHNW, «Wahrnehmungsgrenzen im Strassenverkehr»)

Text: Anita Brechtbühl 
Bilder: zVg

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