Fahrbericht Polestar 4

Wer braucht schon eine Heckscheibe?

Manchmal wird auch das, was es gar nicht gibt, zum Gesprächsthema. Beim Polestar 4 ist es die fehlende Heckscheibe. Stattdessen überträgt eine Dachkamera das Bild ins digitale Rear-Mirror-Display. Ein durchaus polarisierende Designentscheidung, die einige Bedenken hinsichtlich Sicht nach hinten weckt. Sind diese Bedenken gerechtfertigt?

Wer erstmals vor dem schwedisch-chinesischen Elektro-Crossover steht, mag den eleganten Schwung der Dachlinie bewundern, die sportliche Statur, das fast schon futuristische Heck. Doch spätestens beim zweiten Blick stellt sich die Frage: «Moment mal – wie schaue ich eigentlich nach hinten?» Die Antwort lautet: mit dem Innenspiegel. Nur dass dieser kein Spiegel im klassischen Sinn ist, sondern ein Display, gespeist von einer Kamera am Heck.

Schwer einzuordnen  

Der Polestar 4 lässt sich schwer einordnen: SUV, Coupé oder Limousine? Das 4,84 Meter lange Crossover-Gefährt, das mit breiten Schultern auftritt, ist vielleicht von allem ein bisschen. Hinter dem markanten Design steckt die Überlegung, Platz und Aerodynamik miteinander zu verbinden. Ex-Chefdesigner Maximilian Missoni, inzwischen zu BMW abgewandert, wollte mit dem Verzicht auf die Heckscheibe den Raum im Fond vergrössern, die Dachlinie eleganter nach hinten ziehen und gleichzeitig die Kopffreiheit verbessern. Tatsächlich wirkt der Rückraum weniger beengt, als es die coupéhafte Silhouette von aussen vermuten lässt. Es ist luftig, zumindest soweit ein Raum ohne klassisches Fenster luftig wirken kann. Doch dank grossem Panorama-Glasdach (für 1'900 Euro Aufpreis) dringt viel Licht ins Innere und vertreibt das Gefühl, in einer dunklen Höhle zu sitzen. Auch der Kofferraum bietet mit 526 bis 1'536 Litern ordentlich Platz, auch wenn der Nutzen in der Praxis durch die schräge Dachlinie eingeschränkt ist, schon eine Kiste Wasser brachte die automatische Klappe zum Meckern.

Skandinavisches Interieur

Insgesamt wirkt der Innenraum typisch skandinavisch-cool, hochwertig und durchdacht. Polestar legt grossen Wert auf Nachhaltigkeit, und so bestehen viele Materialien aus recycelten Stoffen, die wiederum recycelt werden können. Besonders ins Auge fallen die innovativen Textilien wie «Tailored Knit», die aus recyceltem PET bestehen und dem Innenraum einen modernen Touch geben. Im Zentrum prangt ein 15,4 Zoll grosser Touchscreen im Querformat auf der Mittelkonsole. Er steuert alles Wichtige, vom Navigationssystem über die Medien bis zur Klimaanlage. Android bildet die Basis, schnell und intuitiv bedienbar, wenn man die Struktur verstanden hat. Praktisch: Shortcuts lassen sich individuell belegen. Unpraktisch: Selbst das Handschuhfach öffnet nur per Fingertipp auf dem Screen. Neben dem grossen Display gibt es ein 10,2-Zoll-Cockpit-Panel sowie optional ein Head-up-Display. Haptische Knöpfe sind dagegen Fehlanzeige, bis auf einen Drehregler für die Lautstärke. Ansonsten gilt: berühren oder sprechen. Ein nicht auf Anhieb überzeugendes Konzept, zumal die Bedienung viel Aufmerksamkeit fordert und Ablenkung erzeugt, die von den nervigen Assistenzsystemen sogleich mit erhobenem Zeigefinger moniert wird.

Gewöhnungsbedürftige Technik

Und dann ist da ja noch die Sache mit dem digitalen Innenspiegel. Auf 8,9 Zoll zeigt er gestochen scharf, was hinter dem Wagen passiert. Allerdings braucht das Auge Zeit, um den Wechsel von der realen zur digitalen Wahrnehmung zu verarbeiten. Vor allem in der Stadt, beim Rangieren oder in engen Situationen, fühlt man sich wie in einem Lieferwagen ohne Fenster. Für Brillenträger kann das Ganze zur echten Herausforderung werden, denn die Fokussierung zwischen Display und Strasse verlangt Gewöhnung. Zwar lässt sich das System auch auf analoge Ansicht umschalten, doch dann sieht man nur die eigenen Fondpassagiere – wenig hilfreich beim Spurwechsel auf der Autobahn.

Im Sportwagen-Tempo

Und da präsentiert sich der Polestar 4 als ernstzunehmender Sportler. In der von uns gefahrenen Allradversion mit zwei Motoren stehen 400 kW beziehungsweise 544 PS bereit, den Zweieinhalb-Tonner in 3,8 Sekunden auf 100 km/h zu katapultieren. Das ist Sportwagen-Tempo und fühlt sich auch so an. Ein kurzer Druck aufs Fahrpedal, und das Auto schiebt derart vehement nach vorn, dass das Handy aus der Ladeschale fliegt und die Sitze kaum genug Halt bieten. Dabei hilft in der Topversion das serienmässige adaptive Fahrwerk, dass zwischen sportlich-straff und komfortabel umschaltbar ist. Im normalen Modus gleitet der Wagen geschmeidig auch über schlechtere Strassen, im Sportmodus dagegen strafft sich alles spürbar und der Brocken erscheint plötzlich viel leichter. Aber auch auf der Langstrecke ist der Polestar ein souveräner Reisebegleiter – leise, kräftig und komfortabel.

Alltagstaugliche Reichweite

Dabei stellt sich die Frage nach Reichweite und Laden. Mit einer Batteriekapazität von nominell 100 kWh (netto 94 kWh) soll der Polestar 4 bis zu 590 Kilometer weit kommen. In der Praxis pendelte sich das Ganze bei einem Durchschnittsverbrauch von 21 kWh bei 440 Kilometern ein, was immer noch sehr alltagstauglich ist. Dafür lädt er mit bis zu 200 kW an der Schnellladesäule, kurzzeitig schaffte er sogar mal 205 kW. Im Schnitt waren es zwischen 10 und 80 Prozent aber eher rund 140 kW, womit der Stopp eine gute halbe Stunde dauerte. Wer zu Hause mit Wechselstrom lädt, braucht mit 11 kW dagegen fast elf Stunden.

Kein Schnäppchen

Beim Preis muss man sich allerdings warm anziehen. Zwar bietet Polestar bis zum 30. September 2025 einen Preisvorteil von CHF 3'000.- an, trotzdem liegt der 4er mit CHF 76'400.- immer noch im oberen Segment.

FAZIT

Keine Frage, mit seinem kamerabasierten Heckblick polarisiert der Polestar 4 und dürfte somit eher ein Auto für eine technikaffine Kundschaft sein. Dafür bietet er sportliche Fahrleistungen, nordischen Komfort in vielen Bereichen und eine neue Sicht aufs Autofahren – wortwörtlich.

Text mru/aum / Bilder Markus Rutishauser

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